Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen by Erich Fromm

Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen by Erich Fromm

Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 978-3-95912-121-7
Herausgeber: Edition Erich Fromm
veröffentlicht: 2016-01-13T16:00:00+00:00


2. Seelische Gesundheit und evolutionäres Denken

Das humanistische Verständnis von seelischer Gesundheit, um das es mir im Folgenden geht, ist eine dynamische Interpretation. Deshalb möchte ich zunächst über die besondere Eigenart dieses dynamischen Verständnisses sprechen. Es ist zuerst von Freud definiert worden. Ich möchte betonen, dass dieses Verständnis in einem evolutionären Denken wurzelt, wie es bei Darwin, Marx und Freud vorzufinden ist. Die Entwicklung des Menschen wird als evolutionär gesehen. Man kann sie zurückverfolgen und bis zu einem gewissen Grade auch voraussagen. Für Freud und Marx, den beiden wichtigsten Repräsentanten evolutionären Denkens im humanwissenschaftlichen Bereich, ist nun aber charakteristisch, dass sie diese evolutionäre Vorstellung mit einer Wertvorstellung verknüpfen. Für sie sind die frühesten Entwicklungsstadien weniger wertvoll, während die späteren, oder wie man auch gerne sagt, die höheren Stadien wertvoller bzw. – vom Wertstandpunkt aus – besser sind.

Der Zugang zum Verständnis von seelischer Gesundheit über eine dynamische und evolutionäre Interpretation führt uns in folgende Schwierigkeit, die ich an Beispielen verdeutlichen möchte: Wenn man auf der einen Seite einen völlig narzisstischen Säugling und andererseits einen völlig narzisstischen Erwachsenen hat, dann ist der Säugling nicht krank, weil sein Narzissmus ein notwendiger Teil seiner evolutionären Entwicklung ist. Im Rahmen seiner Evolution ist der Narzissmus in einem frühen Stadium ein notwendiger Bestandteil. Weil er aber notwendig ist, ist er nicht pathologisch. Zeigt die gleiche Person zwanzig Jahre später dasselbe Ausmaß von Narzissmus, dann ist sie psychotisch. Oder ein anderes Beispiel: Wenn ein Kind von drei oder vier Jahren mit seinem Kot spielt, dann ist dies nichts Pathologisches. Zeigt ein Erwachsener zwanzig Jahre später die gleiche Lust daran, dann ist dies ein höchst alarmierender Hinweis auf eine seelische Erkrankung.

Solange ein bestimmtes Phänomen der menschlichen Entwicklung als notwendiges Stadium auftaucht, ist es nicht pathologisch. Hält es sich aber über die entwicklungsbedingt notwendige Zeit hinaus, ist es als etwas Pathologisches anzusehen. Genau dies beschrieb Freud mit den Begriffen „Regression“ oder „Fixierung“. Den gleichen Gedanken gibt es auch im evolutionären Denken von Marx. Sklaverei ist für ihn nichts in sich Böses, solange für die Entwicklung der Gesellschaft die Sklaverei eine [XII-149] Notwendigkeit ist. Das gleiche gilt für das Eigentum, die Entfremdung usw. Existiert jedoch die Sklaverei noch in einer Situation, in der sie auf Grund der allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen längst überwunden sein könnte, dann ist sie eine pathologische Erscheinung.

Dieses Verständnis erklärt auch einen berühmten Satz von Hegel, der diese Vorstellung teilte und all sein Denken auf ihr aufbaute – ein Satz, der oft missbräuchlich zitiert wird: „Was wirklich ist, das ist vernünftig“ (G. W. F. Hegel, 1821, S. 24). Hegel redet damit gerade nicht dem Reaktionären das Wort, dass er alles akzeptiere, was es gibt, und dass das Schlimmste vernünftig sei, vorausgesetzt, es ist wirklich. „Wirklich“ bedeutet im Denken von Hegel „wirklich, insofern es notwendig ist“. Und damit meint er, dass das im evolutionären Prozess Notwendige niemals etwas Pathologisches ist, dass es aber pathologisch wird, wenn es über sein evolutionäres Notwendigsein hinaus Bestand hat. Selbstverständlich bedarf Hegel für ein solches Verständnis einer klaren Vorstellung der Evolution, das heißt der Phasen der Evolution, die der Einzelne oder die Menschheit insgesamt zu durchlaufen haben.



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